Das Klima wandeln – vom Sinn des Ärgers

Wie hängen Kommunikation, Orientierung und Ärger zusammen?

Wie können wir das Klima in unserer Kommunikation wandeln? Und warum wäre das gut? Welche Rolle spielen dabei Respekt und der Mut, Anliegen zu äußern? Warum schlucken wir Ärger so häufig hinunter und scheuen uns, Konflikte bis zu einem – guten – Ende auszutragen?

Frauen und Männer in Teams, auf Führungsebene und als Einzelne wünschen sich häufig „mehr Wertschätzung“: ihrer Arbeitsleistung, ihres Einsatzes und auch ein „ernst nehmen“ ihrer Anliegen. Sie wünschen sich Resonanz gegenüber dem, was ausgesprochen wird und sogar gegenüber dem Unausgesprochenen. Sätze wie, „das müssten unsere Chefs doch eigentlich verstehen“ und „wie könnten wir ihnen das vermitteln…ohne anzuecken?“sind nicht selten.
Dieses ersehnte Resonanzverstehen gelingt nicht immer. Menschen fühlen sich falsch verstanden, nicht wahrgenommen, zu wenig wertgeschätzt. Es entsteht ein Klima von Missverständnissen, manchmal sogar Misstrauen bis hin zu Verunsicherung. Es entstehen Fragen wie: “liege ich falsch? Bin ich zu fordernd? Spricht das Gegenüber eine „andere Sprache? Muss ich klarer werden?“ Zweifel machen sich breit.

„Das Wesen des Menschen ist Sprache“ Martin Heidegger, der aufgrund seiner politischen Haltung nicht unumstrittene Philosoph aus dem Schwarzwald, beschreibt hier in einem einfachen Satz eine wesentliche Bedingung und Möglichkeit des Menschseins.
Sprache ist hier im weitesten Sinn gemeint: Schriftsprache, Bildsprache, Körpersprache, eben der (Selbst-)Ausdruck zu dem wir als Menschen fähig sind. Sprache zu haben, zu erlernen, dazu befähigt zu sein, zu sprechen, ermöglicht das sich einer selbst bewusst zu werden, das in der Psychoanalyse so genannte Mentalisieren. Mentalisieren bezeichnet einen wesentlichen Schritt in der menschlichen Entwicklung. Es ist die Phase in der ein Kind im Alter von 4-6 Jahren beginnt, über sich selbst Geschichten zu erzählen, sich nicht nur als Objekt sondern mehr und mehr auch als Subjekt selbst zu erkennen, sich selbst, seine Gefühle, Handlungen und deren Folgen bzw. Ursachen zumindest im Ansatz, ganz basal, zu reflektieren.
Diese Entwicklung des Selbst, die mit der Mentalisierung allmählich einsetzt, die wahrgenommen und in kleinen Schritten immer mehr reflektiert eben mentalisiert wird, umfasst nicht nur die kognitive sondern auch die emotionalen und körperlichen Aspekte der Reifung, also alle Ebenen der menschlichen Identität.

Die für die (Reife-)Entwicklung so wichtige Mentalisierung kann unterbrochen werden bzw. nur bruchstückhaft gelingen, wenn intellektuelle Beeinträchtigungen, Traumaerlebnisse, u.ä. diesen Prozess beeinträchtigen oder weitgehend verhindern. Wer je Menschen sozialarbeiterisch oder therapeutisch begleitet hat und manchmal auch daran „verzweifelt“ ist, dass die Klienten weder die Ursachen noch die Folgen ihrer Handlungen realistisch einzuschätzen scheinen, kann anhand der – behutsamen – biographischen Erforschung der Mentalisierungsphase der Klienten ein ganzheitlicheres Bild der Ursachen der realen oder vermuteten „Noncompliance“ erhalten.

Aber auch in scheinbar „normaleren“ Beziehungskontexten, beispielweise auf der Ebene der Kommunikation innerhalb eines Teams, ist (Körper-)Sprache im weiteren Sinn das Mittel der Wahl, um sich auszudrücken, seinen Platz in der Hierarchie zu sichern, seinen Raum abzugrenzen, sich zu behaupten usw. Und dieses Sich Ausdrücken ist immer begleitet von Emotionen. Die schweizerische Psychoanalytikerin und Jungschülerin, Verena Kast schreibt dazu: „Unsere Emotionen, die wir im Körper spüren und die in Verbindung sind mit allem, was in unserem Körper abläuft…, geben uns Orientierung nach innen und nach außen.“ (Kast, 2022, S. 97)
Kast weist daraufhin, dass unsere Gefühle unsere Identität stiften und am Leben erhalten. Haben wir beispielsweise in der Kindheit tiefe Gefühle von Ohnmacht und „nichts ändern können“ erlebt, so werden wir unsere Identität nicht selten als brüchig erfahren. Sind wir trotzdem ausgestattet mit tragfähigen Resilienzfaktoren, wirft uns so leicht nichts um. Ohne Gefühle wären wir leere Denkapparate, „nur eine Funktion“, wie Foucault schrieb, und dennoch sind uns unsere Gefühle häufig im Weg. Sie hindern uns am glatten Funktionieren, verlangsamen das reibungslose Geschehen und sind die Hauptursache dafür, dass wir – unser Real-Ich – mit unseren Ich-Idealen kollidieren. „Je und moi“ wie Lacan schrieb, passen scheinbar nicht zusammen.

Kast versteht Gefühle als Basis unseres Identitätserlebens. Erinnert sei hier auch an den Gehirnforscher Gerhard Roth, der dem lymbischen System als Sitz der Gefühle im Gehirn eine spannenderweise deutlich prägendere Funktion für menschliches Handeln unterstellt als dem steuernden und ordnenden Neokortex!
Kast: „Alle Emotionen und Gefühle betreffen unsere aktuelle Identität, das ist ganz besonders beim Ärger der Fall. Im Zusammenhang mit Ärger geht es darum, dass meine Persönlichkeit nicht respektiert wird, meine Integrität verletzt wird.“ Das ist auch und gerade dann der Fall, wenn sich Menschen in ihrer spezifischen Persönlichkeit, mit deren Grenzen an Belastbarkeit oder ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen oder gespiegelt fühlen.
„Integrität meint, eine nicht zu verletzende Grenze um sich haben zu wollen und zu schützen. Greift jemand unsere Identität an, fühlen wir uns verletzt.“ Und es entsteht Ärger. „Ärger und Angst interagieren häufig miteinander. Wir wissen natürlich aus reicher Erfahrung: wenn wir unseren Ärger nicht sehr geschickt ausdrücken, reagiert der Empfänger oder die Empfängerin ebenfalls mit Ärger.“ Die Beziehung selbst, und hier setzt die Angst ein, wird unter Umständen bedroht.
Manchmal entsteht aus dem Ärger Streit und der kann nur gelöst werden, wenn wir schauen und in die Verantwortung nehmen, was die Streitparteien ihrerseits zu den Missverständnissen, zu Ärger oder Grenzverletzungen beigetragen haben.
Es geht darum in das Handeln zu kommen, wirklich etwas am – eigenen – Verhalten zu ändern; nicht um Scheinlösungen, nicht um bagatellisieren auch nicht um „weiter so“ trotz anderweitiger Beteuerungen sondern verändern, change.
Der Kommunikationsexperte Schulz von Thun stellt spannungsreiche Konfliktbewältigungen gegeneinander:

Friedhöflichkeit versus Konfliktbereitschaft
Gallige Streitsucht versus Abgrenzungsfähigkeit

Häufig steht an Stelle eines offenen Streits die passive Aggression. Ärger wird hinunter geschluckt und schmort vor sich hin in Dienstzimmern, bei Teambesprechungen z.B. oder er wird verlagert auf „unschuldige Dritte“, die es nicht „recht machen können“, weil sie die verschobenen Ärgernisse und die aus ihnen resultierenden, „verborgenen“ Aufträge gar nicht kennen.
Denn auch diesen Dritten gegenüber gilt: hinter der passiven Aggression steckt häufig ein bei sich selbst nicht eingestandener Ärger. Manchmal müssen wir Situationen verändern und aktiv werden statt den Anderen die Verantwortung oder Schuld an dem wie es ist, zu zuschieben.
Die Übernahme von Verantwortung ist ein Zeichen von Reife. Verantwortung zu übernehmen ist häufig schmerzhaft und es braucht den „Mut zur Angst“(Kast) „Man kann sich fragen, was wir verpassen im Leben, wenn wir den Mut zur Angst verpassen…In der Angst kann man sich nicht von jemand anderem vertreten lassen…es geht um nichts anderes als um einen selbst.“ Sich nicht zu ärgern, so Kast, ist „Knechtsart“ (Aristoteles). Eine Flucht vor der mit dem Ärger verbundenen Angst. Ärgert man sich nicht mehr, „so finde ich das überhaupt keinen Ausdruck für menschliche Reife. Und statt man sich ärgert und kämpft, wird man depressiv.“
Die Übernahme von Verantwortung, wird ermöglicht durch das Annehmen dessen was C.G. Jung den eigenen „Schatten“ nannte. In dieser Integration dessen, was wir nicht – so gerne – an uns selbst wahrnehmen wollen, vollziehen wir bewusst unsere Individuation, unsere Selbstwerdung statt von einem „man selbst“, von außen gesteuert zu werden.
Dieses Annehmen ermöglicht Reifung und erwachsen werden, das Erlangen von Würde als sprechender und mithin an der Welt teilhabender Mensch, statt der Haltung: “die Welt ist eine Pralinenschachtel und wir nehmen uns die Besten heraus.“
Was also ist der Sinn des Ärgers? Ich ärgere mich, weil ich noch etwas erreichen möchte, weil ich mich engagieren möchte, für meine Kunden, Klienten, für meine Arbeitszufriedenheit, für meine Umwelt.
Es geht hier auch darum den im professionellen Bereich weit verbreiteten Ärger-Mythos zu hinterfragen. Häufig denken Professionelle: wenn ich mich ärgere oder schlimmer noch aggressiv werde, bin ich nicht – mehr – professionell. Natürlich geht es nicht darum in der narzisstischen Komponente des Ärgers stecken zu bleiben oder ihn auszuagieren aber es sollte erlaubt sein, Ärger zu fühlen. Nur wer sich noch ärgert, kann auch empathisch sein. Wenn ich meinen Ärger zu Engagement umforme und auch 1x konfrontiere damit, möchte ich noch etwas erreichen.
Heideggers These von der Sprache, die den Menschen zum Erzähler seiner selbst macht, ist immer noch aktuell. Wir leben in einem Klima von Doppelbotschaften bis hin zu frei erfundenen Geschichten. Zum Erhalt von Macht werden häufig „gute Gründe“ vorgeschoben, um sein eigenes Ding durch zu setzen. Wer zahlt für diesen verkehrten Klimawandel in der Kommunikation? Wenn die Rede von der Schere, die immer weiter auseinander geht, stimmt, dann zahlen: ärmere Länder, Menschen, die sich den immer größer werdenden ökologischen Fußabdruck nicht mehr leisten können, die Sprachlosen ohne Lobby für ihre Rechte und Belange. Vor Allem aber die nachfolgenden Generationen.

Betrachten wir nüchtern die aktuellen Fluchtbewegungen, dann gibt es 2 Arten von Flüchtenden: die die vor sich selbst fliehen, getrieben von der Angst vor Selbstbegegnung in einer hyperaktiven, süchtigen Welt. Und die, die in ihrer ökonomischen und ökologischen, physischen und psychischen Identität durch Kriege und Klimawandel bedrohten Flüchtlinge. Für Letztere geht es übrigens nicht selten um das blanke Überleben und schon lange nicht mehr um den Schutz ihrer Grenzen und Identität. 

Der bekannte Konfliktforscher Glasl hat immer wieder betont, dass der Kern aller Konflikte Ungerechtigkeit ist. „Streiten um Gerechtigkeit gehört zum Menschen“, meint Kast.
Wenn Frauen und Männer in Teams nicht zumindest in einem gewissen Maß das Gefühl haben, auch streiten zu können, um ihre Arbeitsbedingungen zumindest zum Teil zu kontrollieren, ihre Aufträge auch selbständig gestalten zu können, verlieren sich bekanntlich ihre Motivation.

Die Arbeit an der Beseitigung von Ungerechtigkeit, unklaren oder „falschen“ Arbeitsaufträgen, beginnt damit diese zu hinterfragen bzw. sie zu benennen. Hier kann das manchmal so sperrige Gefühl des (sich-) Ärgerns ein guter Hinweisgeber sein.

Ärger und die mit dem Ärger verbundene Angst, kann auch ein Motor sein, Konflikte zu einem guten Ende zu bringen statt sie einzufrieren und in der Kommunikation „unterwegs im Nirgendwo“ zu parken. Sich ärgern kann dann konstruktiver sein als im Schmerz, in Regression und Rückzug stecken zu bleiben.
Sprache zu haben, ist die große Chance des Menschseins. Wir können sie nutzen im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Welt und deren Bewohnern. Sprache in diesem selbstreflexiven Sinn ist tatsächlich spezifisch menschlich.
Der Mikrokosmos bildet den Makrokosmos ab und umgekehrt. Wenn wir das Klima wirklich wandeln wollen, wäre es gut Verantwortung zu übernehmen, erwachsen zu werden und nach dem was wir sagen, auch zu handeln. Jede und jeder kann aufhören, Schuld und Verantwortung zu externalisieren. Jede und Jeder kann sich ehrlich nach den Ursachen von Konflikten, von Ärger, von Identitätsverlusten fragen.
Wir leben in einer Welt der „metaphysischen Obdachlosigkeit“ (so der Psychosomatiker Eckard Schiffer) und der Wandel des Klimas unserer Welt im Mikro- und Makrokosmos wird im Wesentlichen nur dann gelingen, wenn wir wieder mehr Mut zu konstruktiven Ärger entwickeln. Verena Kast zitiert in diesem Zusammenhang einen Topos aus dem französischen Existenzialismus, der wieder an Aktualität zu gewinnen scheint. Statt passiv aggressiv zu agieren, statt zu resignieren, gilt es zu erkennen: „es geht wirklich um uns selbst, um unser Handeln“ mit dem Motto der Existenzialisten gesprochen: „Wir müssen uns engagieren.“

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